Buch-Gesichter

 

Sie haben gerade ein Buch gelesen, das Sie begeistert? Dann empfehlen Sie es doch in dieser Rubrik weiter, ganz gleich ob Roman, Sachbuch, Kinderbuch oder vielleicht etwas ganz anderes. Fassen Sie Ihre persönlichen Eindrücke in Worte und schicken Ihren etwa eine Seite langen Text an kontakt@freundeskreis-bibliothek-ts.de. Dazu wünschen wir uns ein Foto von Ihnen zusammen mit dem vorgestellten Buch – ein Buch-Gesicht eben!

 

Diese Rubrik steht allen Interessierten offen und wird redaktionell von unserem Vorstandsmitglied Ilse Layer betreut, einer erfahrenen Literaturübersetzerin und Lektorin.

 

Sie haben dazu eine Frage? Rufen Sie Frank Sommer an unter 0172 3054869.

 

Hier die Buchgesichter:

Irene Friedländer    Foto: privat
Irene Friedländer Foto: privat

 

LÖWEN WECKEN von Ayelet Gundar-Goshen,  empfohlen von Irene Friedländer

 

Auf den ersten Blick könnte man meinen, es handle sich um einen spannenden Krimi. Mitnichten, der Roman ist zwar spannend, beschreibt aber eine Tragödie, die die Leser  in ihren Bann zieht und neben der individuellen Geschichte des Protagonisten auch die vielfältigen Ebenen und Konflikte unseres gesellschaftlichen Lebens integriert.

 

Worum geht es?

 

Der israelische Neurochirurg Etan Grien ist nach einem anstrengenden Arbeitstag spät nachts in seinem Auto auf dem Heimweg, begleitet von einer wunderschönen Mondnacht, langsam stellt sich Entspannung ein. Jäh taucht vor seinen Scheinwerfern eine Gestalt auf, der Arzt kann nicht rechtzeitig bremsen und vor ihm liegt ein regloser Mann, offensichtlich ein illegaler Afrikaner. Er ist tot. In Sekundenschnelle läuft vor dem inneren Auge Etans ein Film ab; panisch wägt er ab, weiterfahren (der ist sowieso nicht mehr zu retten), Polizei rufen (er hatte auch getrunken) und die daraus entstehende Katastrophe, seine Karriere, sein Ruf, seine Familie etc. betreffend. Er findet Argumente, die es ihm „erlauben“, die Fahrt fortzusetzen und den Mann liegenzulassen.

 

Tags darauf steht eine Frau vor seiner Tür, eine Eritreerin. Die Ehefrau des Verunglückten hält sein Portemonaie in den Händen. Er hatte es am Unfallort verloren. Und sie erpresst ihn. Allerdings geht es nicht um Geld. Es geht um die medizinische Versorgung illegaler Flüchtlinge, die in einer zur Krankenstation umfunktionierten Garage behandelt werden sollen. Etan meint, keine Wahl zu haben und lässt sich auf diesen Deal ein. Entgegen seiner Annahme, dass es sich um eine einmalige Hilfe handelt, werden die Forderungen immer mehr und es beginnt ein Teufelskreis aus Lügen, Schuldgefühlen, innerer Zerrissenheit und emotionaler Abhängigkeit.

 

Anhand der Geschichte versteht es die Autorin, dem Leser/der Leserin einen Spiegel vorzuhalten, sofern dieser in diesen Spiegel schauen möchte. Die Frage, wie hätte ich mich in einer solchen Situation verhalten, drängt sich auf. Was ist Moral? Was ist gut, was ist böse? Der Autorin gelingt es, die Leser in diesen Konflikt hineinzuziehen und – so ging es mir – sich die Frage zu stellen, wie hätte ich gehandelt? Schlummert auch in uns ein Raubtier, ein nicht geweckter Löwe?

 

Hinzu wird mit der Beschreibung der verstörenden Situation der illegalen Flüchtlinge in Israel ein Bogen gespannt zur aktuellen Lage von Migranten in unserem Land, in Europa, in der Welt. Wollen wir das wirklich wissen?

 

Neben ihrer Erzählkunst auf hohem Niveau präsentiert sich Ayelet Gundar-Goshen als detailtreue, empathische und sensible, ihren Figuren zugewandte Beobachterin, die auf jegliche Bewertung verzichtet. Man spürt, dass sie auch praktizierende Psychologin ist.

 

Wer nicht nur unterhalten werden will, was absolut legitim ist, sieht sich neben der wunderbaren Erzählkunst mit Fragestellungen konfrontiert, die zum Nachdenken und Diskutieren einladen. Es lohnt sich.

 

Insofern eignet sich der Roman wegen seines Diskussionspotenzials vorzüglich für Lesekreise.

 

Ayelet Gundar-Goshen ist eine israelische Schriftstellerin, geboren 1982. Ihr schriftstellerisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt in Tel Aviv und arbeitet neben der Schriftstellerei als Psychologin, die sie auch ist.

 

LÖWEN WECKEN ist 2016 im Verlag Kein & Aber als Taschenbuch erschienen. Auch günstig gebraucht zu erwerben.

 

Lea Holtmann/ Foto: privat
Lea Holtmann/ Foto: privat

  Empfohlen von Lea Holtmann

Colson Whitehead: Underground Railroad

 

 

Colson Whiteheads Roman „Undergound Railroad“ in einem Wort zu beschreiben fällt nicht leicht, wuchtig bezeichnet es vielleicht am besten. Mit Wucht reißt es einen dann auch hinein in diese überaus spannende, zugleich aber auch schaurige Geschichte über Hoffnung und Mut, das Abgründigste und das Menschlichste im Menschen. Whitehead thematisiert mit meisterhaften Figuren, einem Funken Surrealismus und mitreißender Sprache das Leben der Sklavinnen und Sklaven auf US-amerikanischen Baumwollplantagen im 19. Jahrhundert. Gerade zu Beginn gibt es dabei einige schonungslose und grausame Momente, die die Barbarie des Menschenhandelns nachzeichnen und (hoffentlich) so manche Leserin und so manchen Leser berühren. Nicht im Mindesten beeinflusst dieses Innehalten jedoch die Spannung, mit der hier erzählt wird. So ist es dann auch ein Abenteuerroman und ein Lesegenuss, der hier zum Nachdenken über postkoloniale Literatur und nicht zuletzt über Menschlichkeit anregt.

 

Die Protagonistin Cora, geboren und aufgewachsen auf einer Sklavenplantage im US-amerikanischen Georgia, ist seit der Flucht ihrer Mutter auf sich alleingestellt. Der Alltag auf der Plantage ist nicht nur von harter Arbeit, sondern auch von Missgunst, Gewalt und Hunger geprägt. Die Verteidigung eines ererbten Gemüsebeetes führt zum Ausschluss Coras aus der Sklavengemeinschaft und ihr Versuch einen befreundeten Jungen zu schützen zu gezielter Gewalt durch den Plantagenbesitzer. Kurz darauf lässt Cora sich von einem Neuankömmling zur Flucht überreden.  

 

Verfolgt von einem grausamen Sklavenfänger erwartet Cora auf jeder Station ihrer Odyssee eine neue Art der Gefangenschaft. Jeder kurze Moment des Glücks koppelt sich an den Verlust von Freundinnen und Freunden, von Helfenden und Fliehenden. Trotz der nicht enden wollenden Strapazen und der ständig wiederkehrenden Erinnerungen an die erlebte Gewalt strotzt Cora vor Lebenswillen. Sie malt sich ihr Leben in Freiheit aus, ihre Kinder, ihre Zukunft. Sie lernt lesen, beobachtet und reflektiert.

 

Die Flucht selbst erfolgt dabei über die „Underground Railroad“, ein geheimes, unterirdisches Eisenbahnnetz, über das Sklavinnen und Sklaven in mehreren Etappen in die liberalen Nordstaaten fliehen. Diese Allegorie der Railroad zieht sich vom Titel an durch das ganze Buch. Ein unterirdisches Bahnnetz wie Whitehead es aufleben lässt, hat es zwar in dem Sinne in den Vereinigten Staaten nie gegeben. Ein informelles Schleusernetzwerk zur Flucht aus den Südstaaten jedoch schon. Es ist der erste Stationsvorsteher, der Cora zu Beginn ihrer Flucht rät, den Blick während der Fahrt aus dem Wagon zu werfen, damit sie Amerika sieht. Erst viel später erkennt Cora seine Botschaft. Denn alles was sie sieht ist: Schwarz. 

 

Underground Railroad, im englischsprachigen Original 2016 erschienen, wurde mit dem Pulitzer Preis prämiert. 2021 erschien eine gleichnamige Serie als Verfilmung. 

 

Colson Whitehed wurde 1969 geboren und wuchs in Manhattan auf. Nach seiner ersten Publikation „The Intuitionist“ folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Essays und einige Sachtexte. Sein neuestes Buch „Harlem Shuffle“ wurde 2021 veröffentlicht.

 

Underground Railroad: Fischer Taschenbuch, 2019, Frankfurt/Main 12,00€.

 


                                                                                          Empfohlen von Irene Friedländer

                                                                       Jocelyne Saucier: EIN LEBEN MEHR

 

Vorab: Dieses Buch will uns nichts, wie neuerdings in Mode gekommen, über die ach so tollen Vorzüge des Älterwerdens erzählen. Vielmehr geht es um Freiheit – im Sinne von Unabhängigkeit – und Selbstbestimmung.

 

„Man ist frei, (…) wenn man sich aussuchen kann, wie man lebt! (…) Und wie man stirbt.“ Dieses Zitat beschreibt sehr eindrucksvoll den Kern der Erzählung.

 

Drei Männer im fortgeschrittenen Alter beschließen, ihr Leben zukünftig in einem nordkanadischen Wald zu verbringen, fernab von Zivilisation und behördlicher Bevormundung. Sie haben sich eingerichtet, jeder in seiner eigenen, selbst gebauten Hütte und mit einem Hund. In einem Gleichgewicht von Abstand und Nähe, Respekt und Humor haben sie sich mit und in ihren Bedürfnissen arrangiert. Der Tod ist unausgesprochen anwesend, es besteht eine stillschweigende Übereinkunft, dass er jederzeit kommen kann oder auch nicht.

 

Über allem liegt eine gewisse Harmonie, eine Verbundenheit, ohne dass es großer Worte bedarf. Eine eingeschworene Gemeinschaft. Dieser Zustand wird jäh gestört, als eine junge Fotografin auf der Suche nach einem Überlebenden der „Großen Brände“ auftaucht, über den sie eine Fotoserie machen möchte.

 

Das Gleichgewicht wird vollends erschüttert, als ein weiterer „Gast“ auftaucht: eine eigensinnige, zierliche Dame von Anfang achtzig, die schnell deutlich macht, dass sie sich dieser Wohngemeinschaft anschließen will.

 

Das ist der Anfang einer Geschichte, deren Fortgang niemand für möglich gehalten hätte und die voller spannender Wendungen ist.

 

Jocelyne Saucier ist ein großer Wurf gelungen. Erzählkunst auf hohem Niveau, Detailtreue, Humor und Empathie sind die Ingredienzen dieses Textes. Einfühlsam erzählt sie eine Geschichte, die die Leser fesselt und mitnimmt in eine Welt, in der sich Menschen ihren Traum von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung nicht nur erfüllen, sondern auch leben.

 

Ohne ein wenig Kitsch und Romantik geht es allerdings nicht; das muss man mögen. Mir hat es gefallen.

 

Jocelyne Saucier ist eine kanadische Schriftstellerin, geboren 1948, lebt heute selbst in einem Wald im nördlichen Quebec. Bevor sie mit dem literarischen Schreiben begann, arbeitete sie viele Jahre als Journalistin. „Ein Leben mehr“ ist ihr vierter Roman.

 

Jocelyne Saucier: „Ein Leben mehr“, Deutsch von Sonja Finck, Insel Verlag 2017, 192 Seiten, Taschenbuch 10 €

 


                                                       Volker Pirsich, Vorsitzender des Bundesverbandes der deutschen Bibliotheks-Freundeskreise e.V.

                                                                              Else Lasker-Schüler: Mein Herz

 

                                                               Der (Brief-)Roman erschien in Buchform erstmals 1912.

 

Kann man das heute noch lesen? Ja, man kann … man sollte es sogar, wenn man bereit ist, sich auf die Berliner Szene des beginnenden Expressionismus und das Innenleben Else Lasker-Schülers einzulassen. Ein Schlüsselroman? Nein, wohl nicht. Aber ein Roman, in dem der (z.T. imaginierte) Freundes- und Bekanntenkreis der Lasker auf- und wieder abtritt. Und das alles vor dem Hintergrund einer Reise ihres damaligen Mannes Herwarth Walden, der ab 1910 die expressionistische Literaturzeitschrift „Der Sturm“ herausgab. „Briefe nach Norwegen“, so hießen die Texte dann auch zunächst, als sie im „Sturm“ in mehreren Folgen erstveröffentlicht wurden.

 

Waldens Reise war längst beendet; die Lasker aber schrieb weiter; und mehr und mehr wird in den Texten deutlich, dass ihre Ehe scheitert. Wie sie das in Form fasst, ist wunderbar und berührend.

 

Ein Text, der zum Entdecken und Wiederentdecken einlädt (Karl Jürgen Skrodzki, der Unermüdliche, hat auf seiner Website viele der Figuren entschlüsselt und erläutert) … aber man kann ihn einfach auch als das lesen, was es primär ist: Literatur.

 

„Mein Herz“ ist derzeit als Taschenbuch wie als Hörbuch lieferbar. Die Originalausgabe ist antiquarisch zu Preisen von 200 € aufwärts erhältlich.


                                               Turit Fröbe: „Alles nur Fassade?“                                                                 

Empfohlen von Gerhard Weil, Webmaster des Freundeskreises

 

In Berlin wird an allen Ecken und Enden gebaut. Überall stoßen wir auf moderne Architektur. Aber welcher Stil ist das und wie können Stadtspaziergänger·innen die unterschiedlichen Architektursprachen treffsicher unterscheiden?

 

Da hilft „Alles nur Fassade?“, das Bestimmungsbuch für moderne Architektur von Turit Fröbe, Gastprofessorin an der Berliner Universität der Künste. Jugendstil, Neues Bauen, Expressionismus, Architektur der Nazizeit, der 1950er- und 1960er-Jahre, Brutalismus, Postmoderne, Dekonstruktivismus, 1990er-Jahre oder die Neo-Stile der Gegenwart – anhand von zwei Kriterien führt die Autorin zu einer sicheren zeitlichen Einordnung. Charakteristisch sind zum einen die Fensterformen, zum anderen die Verwendung von zeittypischen Materialien, wie an zahlreichen Bildbeispielen deutlich wird. Bonus für Berliner·innen und Berlin-Interessierte: Etwa die Hälfte der gewählten Beispiele stehen in Berlin, das durch die DDR-Vergangenheit des Ostteils besonders viele Facetten bietet.

Als weiteres Highlight werden Ikonen der modernen Architektur besprochen, etwa die Wiener Secession von 1898, die AEG-Turbinenhalle von Peter Behrens, das Chilehaus in Hamburg, die Reichsautobahn der Nazizeit, das ICC oder das Bundes-kanzleramt in Berlin.

Das Schicksal vieler gekaufter Bücher – einmal gelesen und dann nie wieder angefasst – droht „Alles nur Fassade?“ keineswegs, denn bei jedem Stadtbummel sorgt das Taschenbuch erneut dafür, dass wir unsere Umgebung mit neuen Augen betrachten.

Turit Fröbe: „Alles nur Fassade?“, DuMont Buchverlag, Köln 2018, 20 €